Ski Heil in Lenzerheide, oder „Ah, er liegt am Boden“

Es ist nicht so, daß mir nichts Neues mehr einfällt und ich  nur noch in alten Kamellen krame. Aber zum einen beginnt erst im März wieder unsere „Reiserei“, zum anderen hat man ja mal so Phasen, in denen man sich an alte Geschichten  erinnert. 
Bei der Durchsicht einiger Fotoalben sind mir dann eben solche wieder eingefallen.

Wie sehr habe ich es geliebt, als Jugendliche mit meinem Patenonkel, meiner Tante und meinem Cousin in den Skiurlaub zu fahren. Unser Urlaubsort war immer Lenzerheide im Kanton Graubünden in der Schweiz.
„Unser“ Häuschen hatte den Namen Arve und stand oberhalb des Ortes mit Blick auf das Rothorn hinter und den Piz Scalottas vor uns.
Zwei Berge, die wir im Laufe mehrerer Urlaube irgendwann alle mal mutig erzwangen, sprich auf Brettern herunter gewedelt sind.
Wobei man nicht bei allen von uns vieren von Wedel-Profis reden kann.
Jeder fängt mal klein an und beginnt seine ersten Gehversuche auf Skiern in einer Skischule. Ich durfte das Privileg genießen, daß mein Onkel uns einen Privatlehrer organisiert hatte. 
Sein Name war Josef, dialektmäßig genau wie der Kabarettist Emil Steinberger und optisch ein bisschen vertrocknet, allein wahrscheinlich schon wegen seiner ständig der grellen Wintersonne ausgesetzten Haut, die dann irgendwann wie braunes Leder aussieht. In meinen Erinnerungen sehen eigentlich Skilehrer immer so aus.
Josef führte uns zunächst auf den Idiotenhügel Dieschen. Für mich, ich erinnere mich genau, anfangs ein Hügel mit Todesgefahrenpotential!
Da steht man dann oben auf dem zu bezwingenden Berg, schaut in die Landschaft und denkt: „Tolle Gegend! Hier muß ich erst noch einmal in Ruhe die Aussicht genießen, ehe ich mich in den Abgrund stürze.“

Lenzerheide hat wirklich eine schöne Umgebung. Es liegt in Graubünden, einem der 1-A-Wintersportgebiete der Schweiz. Die rätoromanische Schweiz, in der man eine Sprache spricht, die kaum jemand versteht. Selbst von Tal zu Tal gibt es Unterschiede, so daß sich die Bewohner nicht unbedingt in lebhafte, fruchtbare Gespräche mit denen gleich hinter dem nächsten Berg stürzen können, aber dem Schweizer an sich sagt man auch nicht wirklich viel Redseligkeit nach.
Apropos hinter dem Berg. Da liegt dann Arosa, möglicherweise ein noch bekannterer Wintersportort. 

Über Lenzerheide gab es mal ein Lied von Vico Torriani. Du meine Güte, wer kennt den denn heute noch? 
Ich sollte das verdrängen, zeigt es mir doch nur auf, daß die Zeit meiner frischen, sportlichen Jugend in den Schweizer Winterurlauben schon sehr lange her ist.
Egal, der sang jedenfalls den überaus anspruchsvollen Text „Auf der Heid, auf der Heid, auf der Lenzerheid, da hat es so herrlich, so herrlich geschneit“.
Und geschneit hat es dort tatsächlich noch jeden Winter, und sogar noch in den Osterferien, auch wenn die manchmal schon in den April hineingingen. Darauf war Verlass.
Solche finanziell-gefährlichen Ideen wie sie Reiseveranstalter heute haben und die Gäste mit einer Geld-zurück-Garantie auf die Berge locken, falls der Skirlaub mangels Schnee ins Wasser fällt (uups, eher ins grüne Gras), das hätte man  damals gefahrlos wagen können. Winter war halt Schnee, basta!
Wir übten also an den Hängen des Dieschen, und mein Cousin und ich hatten ziemlich schnell den Bogen raus, wurden schneller, wagemutiger und machten perfekte Schwünge und Wedelversuche, während besonders mein Onkel sich meistens in den Tiefschnee schmiss.
Es gibt halt Leute, die machen gern mal den Adler. 
Und unser Lehrer Josef schaufelte ihn immer wieder aus den Tiefen heraus. Sein für unsere Ohren schon vertrauter Satz „Ei, wo isch denn des Papppiliiii? Aaah, es liegt am Boooden“ klingt mir noch heute lustig in den Ohren.

Wir aßen mit Freuden Salsiz, eine super leckere Salami, Bündnerfleisch und Raclette. Ein Restaurant in Lenzerheide lockte mit dem seltsamen Angebot "Raclette discrétion", und wir wussten nicht, was das bedeuten soll. Gesehen, gebucht und ausprobiert.
Dreimal Raclette bitte und einmal Gizzi. Gizzi ist in der Schweiz ein Osterlamm. Onkels Osterlamm muß sehr schlecht genährt gewesen sein, denn er fand eigentlich nur Knochen auf seinem Teller, war entsprechend enttäuscht und noch hungrig.
Und wir bekamen unseren Teller Raclette, und zwar einen winzigen, von dem auch wirklich niemand satt werden konnte. Ehe jedoch die Wut hochkochen konnte, kam ein zweiter kleiner Teller mit Raclette, und ein dritter, ein vierter und so weiter.
Es war dann so viel, daß wir es gar nicht mehr schaffen konnten und schon kurz vorm "ich-kann-nicht-mehr-papp-sagen" waren.
Mein Onkel hingegen hungerte vor sich hin und zeigte sich hocherfreut, als meine Tante ihn bat, ihr doch bei den üppigen Raclettemengen ein wenig zu helfen.
Bei seinem ersten Bissen hättet Ihr mal den Kellner erleben müssen! "Daaaas geht aberrr nicht!" kam er angelaufen.
Und genau jetzt hättet Ihr dann auch mal meinen Onkel erleben müssen. Schon hungrig in Wallung gekommen ob des knochigen Gizzis lief er jetzt zu Hochtouren auf und beschwerte sich.

Ein wenig gedemütigt mussten wir dann alle die Erklärung hinnehmen, was denn "Raclette discrétion" bedeutet: Ganz diskret wird einem immer wieder und so lange ein Tellerchen gereicht, bis man platzt und Stop! schreit. Über die Mengen, die man bis dahin vertilgt hat, schweigt das Restaurant dann "diskret".
Peinlich, peinlich, daß sich mein Onkel, allerdings unwissend, zwei Essen zum Preis von einem erschleichen wollte. Aber so ist es als Tourist, wenn man die örtlichen Gepflogenheiten nicht kennt. Heute bin ich viel schlauer - oder denke das zumindest.

Wir hatten noch viele schöne Pistenerlebnisse, wie die dramatische Fahrt mit dem Ankerlift auf den Piz Scalottas. Ankerlifte waren immer schon mein Albtraum, zumindest, wenn man ihn sich selber unter den Popo schieben musste.
Ich war es gewohnt, daß ein "Liftboy" einem das Teil angibt und man sich nur noch festhalten musste. Irgendwann einmal war Mittagspause, aber mein Cousin und ich wollten dennoch auf den Berg fahren. Ganz die große Cousine, plante ich, für uns beide den herannahenden Anker zu ergreifen - das kann doch nicht so schwer sein! Wir stellten uns in Position, der Anker kam, ich griff zu, schwang mir meine Seite unter den Hintern....... und mein Cousin hing mit ausgestreckten Armen an der anderen Seite. Ein Bild, das man nicht beschreiben kann.
Ich forderte ihn auf, loszulassen, aber er wollte nicht. Er riskierte, meterlange Arme zu kriegen während der langen Auffahrt. Ich nahm ihm die Skistöcke ab und packte ihn hinten an der Skihose, um ihm Halt zu geben. Am ersten Steilhang fiel ihm dann ein, daß er doch loslassen wollte, der Verrückte! 
Nun bekam er von mir den Befehl, gefälligst durchzuhalten bis zur Mittelstation auf 1.700 m.
Es ist alles gut gegangen, und zur Belohnung habe ich ihm dann an unserem Chalet geholfen, aus Holz eine kleine Seilbahn zu bauen. Dabei habe ich mir mit dem Hackebeil beinahe den halben Zeigefinger abgehackt. 
Mein Cousin jedenfalls war bald wieder obenauf, was sich auch dadurch bemerkbar machte, daß er mit seinen 10 Jahren ganz locker an den Kassenhäuschen der Liftstationen vorbei marschierte, mit dem Hinweis, er sei doch erst 5 und zur Gratsifahrt berechtigt.
"Daaas glaubscht ja wohl selber nicht", sagte der Kassenmann, ließ ihn aber passieren.
Ich hingegen hatte mir zum Sport gemacht, auf irgend einen großen Mann weiter hinter mir zu zeigen mit den Worten "Mein Vater dahinten bezahlt". 
Ach, die lieben Schweizer sind ein nettes Volk. Sie haben mich zumindest immer glauben lassen, daß sie mir geglaubt haben. 
Skilifte sind für Kinder und Jugendliche, die mit ein bisschen Taschengeld von Oma durch die Hänge flitzen wollen, besonders in der Schweiz auch echt teuer. 

Ich vermisse diese tollen Jahre ein wenig und laufe heute nicht mehr Ski. Wahrscheinlich würde ich mir die Knochen brechen, oder der Skilehrer würde auch bei mir ständig rufen: "Aaaah, sie liegt am Boooden!"


Kommentare

Beliebte Posts