Schottland - Medizin ohne Nebenwirkungen

Deutschland im Februar 2019. Der Grippevirus hat mich erwischt. Ich hatte noch nie einen Grippevirus, aber bekanntlich ist ja alles irgendwann das erste Mal. 
In fünf Tagen will ich nach Schottland zu einem Reiseleiter-Workshop fliegen und anschließend ein Wochenende mit meiner Freundin in Edinburgh verbringen. Ich fühle mich überhaupt nicht so, als könnte ich das irgendwie schaffen. Ich habe eine Rücktrittsversicherung. Will ich die in Anspruch nehmen? Nein, das will ich nicht.
Kann ich so fliegen, wie es mir im Moment geht? Nein, das kann ich nicht. Ich packe mich vier Tage fest ins Bett und mache überhaupt nichts, außer mich ausruhen.
Ich will fliegen, egal wie. Und ich weiß, dass ich das schaffe. Die Hauptsache ist, dass ich nicht mehr ansteckend bin.  
Fünf Tage später finde ich mich am Flughafen Düsseldorf wieder, nicht mehr ansteckend, mich ein wenig besser fühlend, aber nicht besonders fit.  
Es sind nur 1,5 Stunden Flug, dann schnell das Auto am Flughafen abholen, nach South Queensferry fahren und dort sofort ins Bett.
Ich beziehe also mein kleines, niedliches Apartment und wage  noch einen Blick in den nächtlichen Himmel aus dem Schlafzimmerfenster.
Ist das nicht ein wundervoller Ausblick? Die Eisenbahnbrücke über den Forth-Fjord liegt mir quasi zu Füßen, und bei dem Anblick geht es mir sofort schon ein bisschen besser. Morgen soll die Sonne scheinen, da bin ich mal gespannt auf den morgendlichen Himmel. 
Seeluft ist super, noch besser wenn sie schottisch ist. Meine Medizin beginnt schon zu wirken. 
Die Nacht über habe ich das Gefühl, im Fjord nebenan zu schwimmen, so sehr schwitze ich die restlichen Grippe-Zeichen aus. Aber am Morgen befinde ich mich tatsächlich auf dem Trockenen, habe wunderbar geschlafen, nachdem ich zunächst dachte, die Party-People unten im Pub, der sich im Hause befindet, würden kein Ende finden. 
Meine Vermieterin hatte wohl ein Händchen beim Matratzen aussuchen - komplett ohne Rückenschmerzen entschlüpfe ich dem Bett. Na ja, die Frische in Person bin ich immer noch nicht, aber das wird schon.
Von dem, was ich mir mit dem Leihwagen zu erkunden vorgenommen habe, nach dem Seminar zwischen 15 Uhr und Sonnenuntergang, streiche ich allerdings schweren Herzens schon mal einiges zusammen. Outlander-Filmschauplätze hatte ich mir vorgenommen, denn davon gibt es im Umfeld von Edinburgh  etliche. 
„Lallybroch“, in Echt „Midhope Castle“ ist nur einen Katzensprung entfernt, ebenso „Wentworth Prison“, im wahren Leben „Linlithgow Palace“ und das Outlander-Inverness, für welches das Örtchen „Culross“ Pate stand.
Es fällt schon schwer, das alles aufzugeben, aber Gesundheit geht vor Sehenswürdigkeiten-Gucken.
Am Morgen präsentiert sich der Himmel über South Queensferry zum Verrücktwerden rosa. Meine Medizin wirkt weiter, und das ganz ohne Nebenwirkungen. Ich hänge am Fenster, das ein gutes, altes „Push&Pull-Fenster“ ist und denke mir, daß wenn jetzt diese Art von Exekutions-Konstruktion herunter brettert, mein Leben halb von Grippe geheilt mit einer in Rosa getauchten Eisenbahnbrücke vor den Augen endet.
Schade allerdings um den Rückflug. Ich mag Eurowings ungern etwas schenken. 
Aber das Fenster denkt auch gar nicht daran, von alleine herunterzufallen, was ich auch erwarte angesichts der extremen Mühen, die ich aufwenden musste, um es überhaupt zu öffnen. Wenn ich wirklich vieles in Großbritannien mag, dann fehlt mir allerdings das Verständnis, wie man an dieser Art von Fenstern bis wahrscheinlich in alle Ewigkeit festhalten kann. 
Nachdem ich zwei verschiedene Verblendungen abgeschraubt habe, bei denen die Schrauben so aussahen als könnten sie zum Öffne-Mechanismus gehören, war dann nach einem halben Nervenzusammenbruch der Trick gefunden. Ich erspare meinen Lesern die Details. 
Den Stress habe ich sowieso beim Ausblick auf den Fjord sofort wieder vergessen.
Ich schleppe mich durch den ersten Tag des Seminars und schwitze vor mich hin. Ich muß unbedingt bei den anderen Teilnehmern anmerken, daß ich noch Grippe-Reste mit mir herumschleppe und nicht etwa an Wechseljahres-Hitzewellen leide.

Am Abend wage ich es, auf die gegenüberliegende Fjordseite zu fahren. Immerhin lockt ein leckeres Abendessen meiner alten Brieffreundin, und ihr Hund hat immerhin angeblich auch schon geäußert, wie sehr er sich auf mich freut. 
Sie kocht - ich mache Hausaufgaben. Hausaufgaben!!! Wie lange ist das denn bitte her, daß ich sowas machen musste?
Wir sollen uns einen Tag einer siebentägigen Schottlandreise aussuchen und ihn zeitenmäßig durchplanen. Jeder Tag darf gewählt werden, außer der in Edinburgh. Ich wähle den Tag in Edinburgh - genau aufpassen und zuhören war heute wohl nicht meine Stärke.
Aber zum Glück ist das nun alles andere als eine Schwierigkeit, denn immerhin mache ich sowas schon seit 30 Jahren, da werde ich adhoc schnell was auf die Beine stellen können und gebe mich statt neuer Planung lieber erstmal dem schottischen Lachs hin.
Die Vorgeschichten über ihre Essensplanung höre ich von meiner Freundin, die sich mittlerweile im 81. fitten Lebensjahr befindet, immer wieder gern.
Der „fish man“ kommt immer freitags von Haus zu Haus, und man diskutiert über Empfehlungen, Fangtechniken und Lagerung. Ob sie denn wohl den Lachs besser „in the fridge“ einfrieren soll, weil sie ja noch nicht weiß, ob ich kommen kann wegen meiner Krankheit. Und der „fish man“ empfiehlt ihr, daß das wohl besser wäre. Sein Rat klingt logisch, würde doch sonst der ehemalige Meeresbewohner bis zu meiner möglicherweise späteren Ankunft vor sich hin gammeln, und das wäre doch, so sind sich beide einig, absolut schade.
Nach diesem Ritual verschwindet der Lachs also erstmal im Tiefkühlfach und wird erst wieder herausgelassen, als meine Ankunft gesichert ist.
Das wirklich sehr leckere Essen muntert mich weiter auf, die schottische Medizin ohne Nebenwirkungen tut weiter ihre guten Dienste.

Am nächsten Tag nach dem Workshop fühle ich mich unglaublich geheilt und mache mich auf den Weg nach „Lallybroch“ und bin hin und weg von diesem schönen Schlösschen.
In Culross suche ich die Stelle, an der Geilis Duncan als Hexe verurteilt durch die Straßen zum Scheiterhaufen getragen wurde. Hier lebt man ganz gut von den Outlander-Fans, die zu den Schauplätzen pilgern und das eine oder andere Pfund vor Ort lassen. Ich habe noch im Ohr, wie irgend jemand mal äußerte, wie schrecklich doof das doch sei, daß jetzt diese Pilgerer die Filmlocations so überrollen, aber mal im Ernst: So war es doch schon immer, oder hat sich früher jemand beschwert, wenn Leute, die die Romane von Walter Scott gelesen haben, genau dorthin gucken gegangen sind, wo die spielten?
Diese Art von Tourismus gab es doch schon immer! Also kein Gemecker bitte.
Ich merke, ich kann mich schon wieder aufregen - der erste Weg zur endgültigen Genesung. 
Die restliche Woche läuft prima, die Seeluft verschafft mir wunderbares Durchatmen und die schottische Landschaft pflegt meine Seele. Ich erklimme den Calton Hill, auf dem ich das letzte Mal war, als man noch mit dem Reisebus da oben hinauf durfte, und das ist ewig her. Meine Belohnung ist ein mystischer Ausblick über die abendliche Princes-Street
Meine Kondition ist allmählich wieder so, daß ich auch den Anblick des Zimmers im Holyrood-Palast ertragen kann, in dem David Rizzio, der Sekretär der Queen Mary brutal niedergestochen wurde. Auch auf dem Greyfriars Friedhof, auf dem es abends horrormäßig spuken soll, erleide ich weder Angst- noch Grippe-Schweiß.
Es ist überstanden, dank einer wunderbaren Medizin, die „schottische Luft und Landschaft“ heißt.  Zu Risiken und Nebenwirkungen fragt nicht den Arzt oder Apotheker, sondern mich. Ich stelle gern das passende Rezept aus.








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