Total Tolles Tallinn

Mein Favorit im Baltikum ist und bleibt Tallinn.
2005 hatte ich das auf meiner ersten Tour durch die baltischen Staaten so für mich entschieden, und 13 Jahre später sehe ich es immer noch genauso.
Kommt man von Helsinki aus über die Ostsee (die Esten bezeichnen sie übrigens als Westsee), ist der erste Anblick von Tallinn schon sehr reizvoll, sieht man doch eine wunderbare Silhouette aus Stadtmauer, Türmen und der Alexander-Newski-Kathedrale auf dem Stadthügel.
Als Fan von mittelalterlichen Bauten komme ich hier voll auf meine Kosten. Zunächst einmal ein Tipp für alle Kreuzfahrer: Die Altstadt lässt sich sehr bequem in wenigen hundert Metern vom Hafen aus zu Fuß erreichen. Natürlich gibt ein geführter Stadtrundgang mit Erklärungen immer was her, weil man einen geschichtlichen Überblick und Infos über die Sehenswürdigkeiten bekommt. Wer jedoch gern allein unterwegs ist und sich selbst etwas anliest oder einfach nur schlendern will, der kann das ganz einfach tun und wird sicherlich sein Schiff nicht verpassen, weil er sich verirrt und die Stadt zu groß ist.
Tallinn ist überschaubar, und Orientierungsschwache wandern einfach auf den Berg zur orthodoxen Kathedrale und verschaffen sich einen Überblick über die Stadt. Den Blick Richtung Ostsee wenden und schon ist der Weg zurück angepeilt und schnell gefunden.
Oben auf dem Berg lohnen zwei Blicke in zwei unterschiedliche Kirchen: Die russisch-orthodoxe und die Domkirche. 
Größer könnte der Unterschied nicht sein. Der gotische Dom, mit ein bisschen Barockausstattung erweitert, besitzt eine schöne Orgel und eine Menge Grabplatten mit Wappen deutsch-baltischer Adelsfamilien. Dazu interessante Familienlogen aus Holz. So hoch, daß man als kleiner Mensch darin sitzend nicht wirklich viel vom Gottesdienst sehen, sondern einfach nur zuhören kann. Dafür friert man im Winter aber nicht so sehr, denn diese Logen stehen ein wenig erhöht und haben auch einen Holzfußboden. Was hätte ich bei den Weihnachtskonzerten meines Orchesters darum gegeben, in einer solchen Holzloge zu sitzen, denn regelmäßig sind mir da die Hände abgefroren! Ich gebe allerdings zu, daß es aber doch ein wenig blöd ausgesehen hätte, mit der Gitarre so verschanzt hinter Holzwänden....
Die russisch-orthodoxe Kathedrale lässt mit ihrer prunkvollen, überladenen Ausstattung die Domkirche nüchtern erscheinen. Überall schimmert es golden, durchsetzt mit kräftigem Blau.
Ein Gottesdienst findet gerade statt, und einen solchen habe ich noch nirgendwo miterlebt. Für meine Ohren geht es hier sehr ungewöhnlich zu und lässt sich schlecht in Worte fassen. Zumal ich natürlich die Worte des Geistlichen auch nicht verstehe. Sie sind auf jeden Fall so monoton, irgendwie anklagend-bedrohlich, und trotzdem kann ich mich gar nicht abwenden und warte lange ab, ob sich seine Stimme nicht irgendwann doch einmal verändert, im Tonfall nach oben oder unten geht. Aber nein. Es bleibt monoton. Das muß man auch erstmal können!
„Sind die Esten katholisch, protestantisch oder orthodox“, fragen meine Gäste die Stadtführerin. Diese meint schmunzelnd, daß sie eher alle Heiden sind. Es sind tatsächlich einige mystische Bräuche, an denen man hier traditionell festhält.  
Hexentanz in der Walpurgisnacht wird gefeiert und zum Johannisfest verschwinden die Mädchen im Wald, um Wildblumen zu pflücken, die in dieser Nacht magische Kräfte besitzen und die Liebe des Lebens heraufbeschwören sollen. 
Dazu muß man sie unter das Kopfkissen legen, dann erscheint einem der Traummann im Schlaf. Bleibt zu hoffen, daß er sich bis dahin nicht die Füße verbrannt hat, denn bei den Jungs gilt die Mutprobe, barfuß über ein Feuer zu springen.

Auf dem Tallinner Domberg geht es an diesem Montag beschaulich-ruhig zu. Obwohl einige Kreuzfahrtschiffe im Hafen liegen, sind wenig Menschen mit uns hier oben. Gut gewählt scheint also der Nachmittag zur Besichtigung. 
Hier oben wohnt dann auch der estnische Präsident und einige Botschafter. Der niederländische hat dann gleich mal ein orangenes Fahrrad in seinem Garten abgestellt. Wie passend!
Unten in der Stadt wird man vollends vom Mittelalter eingeholt, denn auch Restaurants und Tavernen reiten auf dieser Welle. Das Servicepersonal steht in Magd- oder Knechtkleidung vor der Tür mit Handkarren, bietet gebrannte (mittelalterliche) Mandeln an und lockt die Touristen. Dann läuft da noch einer mit einer Pestmaske vorbei! Im Schlepptau einen Gefangenen. 
Es ist aber gar nicht übel, sich hier zu einem Essen anwerben zu lassen, denn die Atmosphäre ist für meine Begriffe gut gezaubert.
Es ist nur alles nicht sehr preiswert in Tallinn, und man merkt, daß man sich hier schon lange am Nachbarn Finnland orientiert. Ohnehin erinnern viele Dinge an  Estlands skandinavische Nachbarn, einmal abgesehen von der mittelalterlichen Atmosphäre, die z.B. Helsinki als wesentlich spätere Stadtgründung überhaupt nicht aufweisen kann. 
Im Kontrast zum mittelalterlichen Erbe scheint Tallinn alles in Allem auf der Überholspur zu sein. Das erkennt man zum einen an der erstklassigen Digitalisierung. Jeder Este hat das Recht auf einen kostenfreien Internetanschluß. Zum anderen an den neuen Bauten außerhalb der Stadt. Hier eine modern designte Glas-Stahlkonstruktion, dort der Umbau einer alten Fabrik, der man mehrere Glasetagen aufgesetzt hat, mit dem Penthouse des Architekten als krönenden Abschluß.

Die Hotellerie ist vielfältig, und es gibt für jeden das Passende, wenn auch eher weniger zum Schnäppchenpreis. 
Unser Hotel „Palace Tallinn“ ist eine erstklassige Wahl. Selten gebe ich im Internet ein Feedback, aber hier hat mich eine Email des Hotels dazu ermuntert, denn man wollte von mir wissen, ob man mit den erbrachten Leistungen das Land Estland gut repräsentiert hat.
Das haben sie - bestens!

Die Zimmer sind sehr modern ausgestattet und haben tolle Bäder. Per Tablet kann man sich über viele Annehmlichkeiten informieren.
Das Personal ist klasse! Freundlich, kompetent und hilfsbereit. Das Frühstück ist wie selten gesehen. Es gibt sogar Rippchen zum Frühstück. Muß man natürlich nicht haben und ist für mich als Vegetarier uninteressant, aber dennoch als Besonderheit erwähnenswert. 
Man braucht tatsächlich bis zum Abend nichts mehr essen. Vielleicht sogar bis zum nächsten Morgen.

Last, but not least ist die Lage fantastisch, denn man springt nur über die Straße und rennt schon vor die Stadtmauer.
Mit einem Lächeln erinnere ich mich an die Gesichter meiner Kunden, als wir am Hotel vorfahren. Ein grauer Bunker, dunkel von außen und mit dem Charme eines sowjetischen Einheitsstils. Na, das kann ja was werden, wird sich mancher gedacht haben.
Doch dann kam die Wende beim Betreten des Gebäudes! 

Ein letzter Ausflug noch ins Mittelalter und absolutes Muß, wenn man hier ist: Die Ratsapotheke am Marktplatz, auf dem es sich übrigens auch sehr hübsch in einem Café sitzen lässt.
Sie verfügt über ein kleines Museum im Nebenraum, und da wird einem ganz schaurig zumute. Da werden mittelalterliche Heilmittel präsentiert, von denen ich denke, daß wenn einen die Pest nicht dahingerafft hat, haben es diese Mittelchen dann bestimmt geschafft.
Eingelegter Igel zum Beispiel oder eine eingelegte Hand! 
Wozu sollte das denn gut sein? Wer hat sich denn dazu hinreißen lassen, das Innere einer Hand auszulutschen, um irgend eine Krankheit zu heilen?
Ich möchte es mir nicht vorstellen, beende diesen Bericht und vermute, nun den einen oder anderen mit Bildern im Kopf zurückzulassen.














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